Zu Hause

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“Seid ihr wieder zurück?” fragen unsere Nachbarn und denken, wir bleiben jetzt hier.
“Nein, wir sind auf Urlaub hier, in zwei Wochen geht es dann richtig los!”

Tomy geht zum Zahnarzt, damit dieser die herausgefallene Krone richtig einsetzt. Der Zahnarzt ist verdutzt – womit hat Tomy die Krone festgeklebt? Sie sitzt so fest, so dicht und perfekt, dass er nicht daran rütteln mag :-) . Mein Muttermal im Nacken, das die Schwimmweste ständig wundscheuert, hätte ich gerne entfernt, doch die Sprechstundenhilfe ist nicht begeistert. Zu kurzfristig, kein Termin –
“Meine Tochter hat vor ein paar Wochen angerufen, da hieß es, ich brauche keinen!” Na dann. Ich soll um zwölf wiederkommen, aber so schnell ginge das nicht und wenn ich dann wieder weg bin…
Ich sehe den Arzt ganze vier Minuten. Drei davon braucht er, um das Ding anzusehen und mir einen Termin für den nächsten Tag zu geben. Die restliche Minute braucht er für das Prozedere des Entfernens.

Das Visum für Gambia bekomme ich innerhalb von 15 Minuten im Generalkonsulat respektive Reisebüro in der Gladbacher Straße, inklusive einem netten Plausch und etwas Info – die Neugier ist endgültig entfesselt. Jetzt muss nur noch Ebola draußen bleiben, damit wir rein können.

Ich genieße jede Zehntelsekunde mit meinen Kindern. Melisa, der jüngere Zwilling, wohnt jetzt in unserem Haus. Sie hat das Wohnzimmer umdekoriert, wir schlafen in ihrem Bett, unseres steht in Einzelteilen am Dachboden. Dort, in Kisten verpackt, sind auch meine T-Shirts und Jeans. Abends sitzt sie mit uns auf der Couch, endlich ist Zeit, uns von ihrer Reise durch Südostasien zu erzählen und Fotos zu zeigen. Und von den Freunden, die heiraten, den neuen Kindern, und ihren eigenen Pläne. Laura und Philipp kommen zum Abendessen, wir grillen mit Melanie und Thomas. Lian, unser knapp einjähriges Engelchen, lächelt mich schüchtern an, doch Tomys Späßen kann er nicht wiederstehen. Er kräht vor Freude. Alles, was er sieht kommentiert er mit einem langgezogenen, erstaunt klingenden Ohhh! Wohin seine Fingerchen zeigen, was er da genau sieht, weiß keiner so genau. Er pickt sorgfältig die Tomaten vom Teller, schiebt sie genüsslich in den Mund, isst mit allen Sinnen, verlangt vehement nach mehr. Brot patscht er sich mit der beschmierten Seite ins Gesicht, schleckt sie mit Hingabe ab, dann kaut und lutscht er den Rest klein. Es ist schiere Freude ihm zuzusehen!

Am liebsten würde ich die Sechs einpacken und mitnehmen! Dann wäre mein Leben schon mal perfekt!

Denn wenn sie nicht da sind, lebe ich in Deutschland das Leben einer anderen. Diese andere arbeitet im Garten, kauft ein, kocht, wäscht, quatscht mit den Nachbarn, ist gefangen in Rollen, Erwartungen, in Routine, im deutschem Alltag. Da ist keine Freiheit, keine Seeluft, keine Herausforderung, kein Abenteuer, nichts Neues. Da gibt es nichts zu erkunden, alles ist so vertraut, da kommt keine Begeisterung auf.

Mal ganz krass gesagt: Unterwegs bin ich ein kleines Kind, das mit Begeisterung und allen Sinnen, vor Freude kreischend die Welt entdeckt. Ich wachse. Hier gehe ich in der Routine ein.

Dabei entdecke ich auch hier sehr viel, wundere ich mich über das Leben hier: Das Obst- und Gemüseangebot im Supermarkt beflügelt meine kulinarische Fantasie, die Größe, Helligkeit und Sauberkeit der deutschen Supermärkte erfreut das Auge. Ich treffe mich mit einer Freundin in Köln, die Auswahl, die schicken Läden sind überwältigend. Die Sprache verschlägt es mir im Saturn, als ich ein 12V Ladeteil für mein Handy kaufe – so viel Zeugs, das eigentlich keiner braucht, das unsere Ressourcen verschlingt, das Menschen glauben haben zu müssen, dafür verskalven sie sich, arbeiten, um noch mehr Geld für noch mehr Zeug zu haben, Kredite abzubezahlen, hetzen und jagen nach dem Neuesten und vergessen darüber zu LEBEN. Unfassbar, wie wahnsinnig wir sind!

Viele Menschen in Deutschland sind wie Vögel, die Plastikmüll gefressen haben: Sie hungern mit gefülltem Magen, picken gierig nach mehr und verhungern doch.

In Pulheim notiere ich kopfschüttelnd die verwahrlosten Verkehrsinseln – was tun die hier, in einem der reichsten Länder der Erde? Deutschland kann sich keine gepflegten öffentlichen Anlagen leisten? Die Anlieger und Einwohner kümmert das nicht? Was für ein seltsames Land: Rasen im Vorgarten, der mit der Nagelschere geschnitten wird, davor Wicken, die am Straßenrand entlang kriechen, gelegentlich von einer Distel unterbrochen…

Leute, gebt euer Geld nicht für Tand aus, außer vielleicht für Niveadosen mit Bild! Kauft euch einen Rucksack und reist! Schlaft im Freien. Unter Sternen. Geht barfuß über Mäuerchen. Schaukelt. Spielt mit einem Kind. Fragt eine alte Frau nach ihrer großen Liebe. Beobachtet ein Tier. Esst jede Woche etwas, was ihr noch nie zuvor gegessen habt. Geht hungrig ins Bett. Tanzt nackt im Regen. Geht zu Fuß. Lauscht den Vögeln und Grillen, hört Musik, die nicht alle hören. Oder macht Musik. Malt. Fahrt Motorrad, Skateboard, Wasserski, Rollschuh oder Rollstuhl irgendetwas wofür ihr zu alt seid. Oder zu jung. Sprecht mit einem Obdachlosen oder wenigstens mit jemand, mit dem ihr sonst nicht sprechen würdet. Vergebt euren Eltern und Partnern, versöhnt euch mit euren Geschwistern. Oder umgekehrt. Liebt mit allen Sinnen, fühlt die Haut eures Partners, seht ihr tief in die Augen. Riecht eine Blume und pflegt das Unkraut so, dass es hübsch aussieht. Dafür muss sich keiner kaputt arbeiten. Und lasst das mit den Niveadosen – die nähren mich. Ha! ;-)

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